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Was ist das Leben einer Radfahrerin wert?

Shownotes

Fast dreimal so viele Radfahrende starben 2020 in Berlin im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt gab es 2020 in der Hauptstadt 48 Menschen, die im Verkehr tödlich verunglückten - mehr Tote als jeweils in den drei Jahren zuvor. Unter den Todesopfern waren bis zum November 2020 laut Polizei 17 Fußgängerinnen, 16 Radfahrerinnen und neun motorisierte Zweiradfahrer*innen. 18 der Opfer waren laut Polizei mindestens 65 Jahre alt. Einige Kinder waren Opfer, die bei „Grün“ die Fußgängerampel überquerten. Zuvor hatte bereits die Tagesschau Ende August 2020 gemeldet, dass die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland auf dem tiefsten Stand seit 1990 sei. Regional seien die Unterschiede beträchtlich. Laut Statistischem Bundesamt sollen in den ersten sechs Monaten 2020 1281 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen gestorben sein, also 195 Menschen (13,2 %) weniger als im ersten Halbjahr 2019. Höchstes Risiko: Brandenburg, niedrigstes: Hamburg. In Berlin ist das Gegenteil richtig: weniger Verkehr in Coronazeiten und trotzdem noch mehr Tote. Neben der Verkehrsplanung und-lenkung ist auch das Verkehrsrecht und Strafrecht prägend für die Entwicklung der Sicherheit und die vermeidung von Opfern auf unseren Straßen. Hat Berlin versagt in der Justiz unter dem Motto: ein paar tausend Euro Geldstrafe für einen getöteten zu Fuß gehenden oder Radfahrenden Menschen hält niemand davon ab, in den Spiegel beim Abbiegen zu schauen, oder an der roten Ampel stehen zu bleiben? Ulf Morling schildert einen ganz gewöhnlichen Fall: ein Feuerwehrmann ist privat unterwegs und fährt bei "Rot" über eine Ampel. Er tötet eine Radfahrerin, die er am hellichten Tag nicht gesehen haben will, ebensowenig wie die Ampel, die er überfuhr. Bilden Sie sich ihr eigenens Urteil: ist eine Geldstrafe für sein ausgeurteiltes "Augenblicksversagen" zu wenig?

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Michaela S.*, 69 Jahre alt, fährt langsam auf dem Radweg. Dann kommt die Baustelle, direkt in der Nähe des Charlottenburger Schlosses und des Parkes, an der Seite fließt die Spree. Eine kleine Idylle mitten in Berlin. Die Radfahrerin will von der Schlossbrücke ans Charlottenburger Ufer fahren, wohl ganz nah am Fluss sein. Wegen der Baustelle ist am 11. Dezember 2019 eine Ampel aufgebaut, die dem Autoverkehr -kurz vor dem Unfall- „Rot“ zeigt. Eine Fußgängerin geht bei „Grün“ vor Michaela S. über die Straße. Dann verlässt hinter ihr Michaela S. den Fußweg und überquert auch die Straße auf ihrem Fahrrad hinter ihr. Auch sie hat „Grün“, auch wenn eine Radfahrerin auf dem Fußgängerübergang eigentlich nichts zu suchen hat. Sie sieht Sebastian B. nicht, der in seinem teuren Mercedes Benz auf der Straße direkt auf sie zufährt, mit höchstens 45 Stundenkilometern. Erlaubt sind, trotz der Baustelle, 50. Der damals 25-jährige will seine Freundin von der Berufsschule abholen. „Ich hatte es nicht einmal eilig!“, sagt er im Gerichtssaal. B. beteuert, die Radfahrerin nicht gesehen zu haben. Er beteuert, die rote Ampel nicht gesehen zu haben. B.s Auto war 42-45 Stundenkilometer schnell, sagt der Gutachter , als B. mit der rechten Seite seines Autos mit dem Fahrrad und Michaela S. zusammenstößt. Die Frau fliegt mit ihrem Rad weit durch die Luft.

„Vielleicht hätte ich lieber Hupen sollen? Hätte er dann angehalten? Dann würde die Frau noch leben! Sie und andere Zeugen werden niemals vergessen, was sie sahen und die Vorwürfe, die sich machten. „Wir mussten etwas sehen, was niemand sehen möchte.“ sagt die Zeugin im Gerichtssaal.

MUSIK

„Ich bin nicht geboren, um Menschenleben zu nehmen, im Gegenteil, ich will Menschenleben retten.“, sagt der heute 26-jährige Angeklagte, der Feuerwehrmann ist. „Es tut mir unendlich leid!“. Er ist wegen „fahrlässiger Tötung“ angeklagt, wird von seinem Verteidiger in den kleinen Saal des Amtsgerichts geführt, er huscht scheint scheu in den Raum und immer noch ein bisschen fassungslos, dass er die 69-jährige Michaela S. tötete. Das ist nun schon fast ein Jahr her… Sebastian B. kann sich nicht mehr an den Unfall erinnern, sagt er.

Ist das eine Schockreaktion? Stimmt das? Es wird im Gerichtssaal nicht geklärt.

der Angeklagte arbeitet bei der Berliner Feuerwehr, allerdings noch in der Probezeit, er ist Sanitäter. 14.57 Uhr geschieht an jenem 11. Dezember 2019, einem Mittwoch, am hellichten Tag und bei trockener Fahrbahn der schwere Unfall. Eine Stunde und eine Minute später wird -trotz allem- der Tod der Radfahrerin festgestellt im Vivantes-Klinikum. Ein 69-jähriges Leben hat Sebastian B. beendet mit der Rotfahrt im Auto. Ist das „nur“ fahrlässige Tötung? Gibt das wieder nur eine Geldstrafe, eine Geldstrafe ist ein getöteter Mensch gerade einmal wert? Das fragen sich die wenigen Zuschauenden im Gerichtssaal in einer Pause, in fast jedem der Prozesse um getötete Fußgänger*innen und Radfahrende verstehen das die Zuschauer*innen nicht. Vielleicht verstehen sie es auch, aber die mögliche Einsicht, dass alles rechtens ist, will nicht ihr Gefühl besänftigen. Ihr Gefühl sagt ihnen, dass eine Geldstrafe zuwenig ist hier, weil doch der Autofahrer einfach bei "Rot" weiterfuhr. Hätte er nicht einfach auf die Straße vor sich sehen müssen? Sich wundern über das Auto, dass auf der Spur dasatnd an der roten Ampel?

MUSIK

Es ist verblüffend, was die Gutachter*innen in solchen Prozessen alles wissen wollen, was sie aus den beteiligten Autos herauslesen, die die Unfälle verursacht haben, was sie aus dem Verletzungsbild der Opfer schlussfolgern. Der Sachverständige hat im Fall der getöteten Radfahrerin auch die Dashcam eines autofahrenden Zeugen zum Auswerten des Unfalls zur Verfügung. Unbestechlich ist das Video, brutal, es sich anzuschauen, denn man weiß, es wird ein Mensch sterben.

Man sieht auf der linken Spur der beiden Geradeausspuren den Merceds Benz des Angeklagten mit 42-45 Stundenkilometern heranfahren. Auf der rechten Spur steht zwar das Auto der Kunstmanagerin wegen der roten Baustellenampel, doch Sebastian B. bremst nicht einmal. "Eine Bremsspur ist erst direkt vor der Fußgängerfurt zu sehen“, sagt der KFZ-Sachverständige im Prozess wörtlich. Fünfeinhalb Sekunden nachdem die Ampel auf "Rot" schaltete, geschieht der Zusammenstoß des Autos mit dem Rad und der Radfahrerin. Die Reaktion des Angeklagten habe erst unmittelbar vor dem Zusammenstoß eingesetzt, ermittelte der Gutachter. Aber 1,7 Sekunden vor dem tödlichen Zusammenprall hätte Sebastian B. noch die Radfahrerin sehen können, denn es war helllichter Tag. Hätte er also die daraus errechneten 8,4 Meter vor der Radfahrerin begonnen zu bremsen, wäre garnichts passiert. Michaela S. würde noh leben, wäre unverletzt geblieben. Der 26-jährige schluckt. Der Richr liest vor, dass der Angeklagte noch nie im Straßenverkehr auffiel. Er erhielt nie eine Strafe, wohl nicht einmal einen Punkt in Flensburg. Wie sollte man einen solchen Autofahrer verurteilen, der einen kurzen Moment nicht hinsieht und deshalb über die rote Baustellenampel fährt und dann schon garnicht die Radfahrerin wahrnimmt, die er dann tötete?

Musik

Bei 30 Tagen eines Monats sind 90 Tagessätze = drei Monatsgehälter. Richter Karsten Parpart schätzt, dass der Feuerwehrmann, der nichts dazu sagen will, 3.000 Euro verdient. Multipliziert mit drei Monaten macht das 9.000 Euro Geldstrafe wegen fahrlässiger Tötung. Die Regel ist in Berlin, so Staatsanwalt und Richter übereinstimmend, dass in einem solchen Fall nur eine Geldstrafe in Frage kommt. denn, so der Richter im Urteil: Sebastian B. könne man nur ein sogenanntes Augenblicksversagen vorwerfen, er habe nur einen kurzen Moment nicht aufgepasst. Das dürfe keinem Im Straßenverkehr passieren, passiere aber. Weil es aber ein so kurzes und unbeabsichtigtes Versagen sei, dass zum Tode der Radfahrerin geführt habe, sei der Schuldgehalt der fahrlässigen Tötung auch eher gering. Deshalb habe sich in Berlin die Geldstrafe etabliert für das "Augenblicksversagen" von Täter*innen im Straßenverkehr. In einem anderen Fall könnte im Urteil  eine Gefängnisstrafe verhängt werden von bis zu fünf Jahren.

der Fall sei relativ gut aufgeklärt. Der angeklagte Autofahrer habe die rote Baustellenampel nicht gesehen. "Sie hätten aber die Ampel sehen können und- müssen", wird im Urteil wörtlich gesagt. Sebastian B. sei offensichtlich ganz woanders gewesen. Das dürfe aber in einer Großstadt nicht passieren. "Einen Moment nicht aufgepasst- man sieht, was das Folgen haben kann: eine Frau ist tot und; ihr Beruf ist weg!", sagt der Richter im Urteil. Denn: Feuerwehrmann Sebastian B. war bei der Feuerwehr noch in der Probezeit. Jetzt ist er entlassen. Der Name der getöteten Radfahrerin Michaela S. wurde hier geändert*, um ihre Anonymität wahren zu können. Während bei Gerichtsverhandlungen um tragische Unfälle sonst meistens Angehörgige der Opfer dabei sind, war kein Verwandter der getöteten Radfahrerin mit im Gerichtssaal. Die 69-jährige war das sechste und letzte Todesopfer 2019 unter den Berliner Radfahrenden. In diesem Jahr 2020 sind es bereits siebzehn Radfahrer*innen, knapp dreimal so viele Menschen, die laut Polizei meistens schuldlos, oft von abbiegenden PKW oder LKW getötet wurden. Die meisten LKW-oder PKW-Fahrer werden in Berlin bisher wegen "Augenblicksversagens" beim Abbiegen auf der Straße wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt.

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