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Prozess: Irakischer Kindersoldat seit 2017 in deutscher Untersuchungshaft

Shownotes

Die gesonderte Behandlung von Jugendlichen in der Strafjustiz hat in Deutschland eine über 80 Jahre lange Tradition, in seinen Grundzügen hat sich das Jugendgerichtsgesetz seit 1923 jedoch nicht geändert: Erziehung statt Strafe und nicht durch Strafe.

Ende Oktober 2014. Der Himmel ist grau über der zweitgrößten Millionenstadt des Iraks: Mossul. Ein Konvoi von schwer bewaffneten Islamisten läuft vermummt durch die Straßen zum Quassem-al-Khayat-Platz. Dort bleiben die neun maskierten Islamisten stehen, in ihrer Mitte ein Mann in weißem Gewand, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er war vor der Machtergreifung des IS in Mossul der Chef einer paramilitärischen Einheit der Polizei. Plötzlich tritt ein Junge in rotem Pullover auf den Gefesselten zu: Abbas, damals 15…

In Deutschland werden Abbas Vater und er als mutmaßliche IS-Kämpfer gefasst. Inzwischen sind sie hier Flüchtlingw. Für Abbas gilt das Jugendgerichtsgesetz, da er zur Tatzeit 15 Jahre alt gewesen sein soll. Als das Gesetz vor fast genau 98 Jahren als "Reichsjugendgerichtsgesetz" in Kraft trat, wurde "Erziehung" der noch "unfertigen" Erwachsenen groß geschrieben. Deutschland war ein Vorreiter in Europa im Jahr 1923. Jugendliche wurden mit 14, statt wie bisher mit 12, strafmündig. Bis zum Alter von 18 konnte verurteilt werden 1 Mit dem Gesetz von 1923 wurde die Strafmündigkeit auf 14 Jahre (zuvor 12 Jahre) heraufgesetzt, das Gesetz galt für Jugendliche bis 18 Jahre, es gab Bewährungsstrafen. Gustav Radbruch war damals Justizminister. Es gab Jugendgerichte und der Erziehung verschriebenen Jugendhaftanstalten. Nicht mehr Rache und Sühne sollten im Vollzug einer Strafe im Vordergrund stehen, sondern Erziehung… Zumindest für Jugendliche sollten nicht mehr Rache und Sühne im Mittelpunkt der Strafpraxis stehen, sondern Erziehung. Wie ist das mit Abbas, fast 100 Jahre nach den ersten Neuerungen des JGG (Jugendgerichtsgesetzes)? Wo wurde in den knapp vier Jahren seiner Untersuchungshaft versucht, ihn zu erziehen, wieder "gesellschaftsfähig" zu machen? Wurde versucht, aus einem mutmaßlichen Islamisten des IS einen jungen Mann zu machen, der die universellen Menschenrechte achtet? Die Bundesrepublik ist bestrebt, Abbas selbst ohne gerichtlichen Schuldspruchs aus Deutschland herauszubekommen. Das Berliner Verwaltungsgericht untersagte in Eilentscheidungen bish er seine Abschiebung.

https://openjur.de/u/2252796.html

Abbas war im Irak Kindersoldat beim IS. Sein Wirken für den IS erfüllt die international geltenden Normen der Kinderrechtskonvention von 1989. Im "Deutschne Bündnis Kindersoldaten" ist u.a. die Kindernothilfe, Unicef, Missio, Plan, Amnesty International und Terre des Hommes (TdH) zusammengeschlossen. Ralf Willinger von TdH sagt im "Bericht Kindersoldaten 2019" über die Einhaltung der Kinderrechte in Deutschland: »15 Jahre nach der Ratifizierung des Zusatzprotokolls ist die deutsche Bilanz angesichts der Auswirkungen von Rekrutierung auf die betroffenen Kinder katastrophal«, sagte Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte von terre des hommes. »Die zentralen Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes an Deutschland werden immer noch nicht umgesetzt – im Gegenteil, die Situation hat sich weiter verschlechtert…Offensichtliche Defizite gibt es beim Schutz geflüchteter Kindersoldaten und -soldatinnen aus Kriegsländern wie Afghanistan oder Somalia. »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verweigerte ehemaligen Kindersoldaten aus Somalia mehrfach die Anerkennung als Flüchtling mit dem Argument, in Somalia sei jedes Kind von Rekrutierung bedroht, deshalb handele es sich nicht um individuelle Verfolgung. Ein unzulässiges Argument, denn damit wird die besonders hohe Bedrohungslage den Kindern zum Nachteil ausgelegt«, kritisierte Ralf Willinger. »Dabei ist bekannt, dass ehemalige Kindersoldaten in Somalia sowohl von gegnerischen bewaffneten Gruppen als auch von ihren eigenen ehemaligen Gruppen mit dem Tod bedroht oder getötet werden.«

"Deutsches Bündnis Kindersoldaten" (Sprecherorganisationen: Kindernothilfe, Terre des hommes) im Internet: http://www.kindersoldaten.info/

2019: Schattenbericht "Kindersoldaten" (PDF)

https://www.tdh.de/fileadmin/user_upload/inhalte/04_Was_wir_tun/Themen/Weitere_Themen/Kindersoldaten/2019-11_Schattenbericht-Kindersoldaten.pdf

Im November 2020 versenden die Kinderhilfsorganisationen, die den "Schattenbericht Kindersoldaten" verfassen, ihre jährliche Aktualisierung an die UN. Erstmals wird das Verfahren gegen Abbas vor dem Berliner Kammergericht direkt erwähnt. Es wird diplomatisch formuliert: "Insbesondere wenn Kinder freiwillig oder nicht, in terroristischen Organisationen oder an terroristischen Verbrechen teilgenommen haben, besteht in diesen Fällen das Risiko, dass bei der Strafverfolgung die Kinderrechte in den Hintergrund treten, wie auch ein anderer Fall zeigen könnte." (Eigenübersetzung U.M.). ("Particularly, if children, voluntarily or not, have participated in terrorist organisations oder terrorist crimes, there is an inherent risk that, when prosecuted, child rights are pushed into the background, as also another case may indicate."):

https://www.tdh.de/fileadmin/user_upload/inhalte/04_Was_wir_tun/Themen/Weitere_Themen/Kindersoldaten/Shadow_Report_Child_Soldiers_2020_Germany_terre_des_hommes_Kindernothilfe_World_Vision_FINAL.pdf

Die Kinderrechtler nehmen Bezug auf einen Artikel des Berliner Tagesspiegels vom Prozessauftakt gegen Abbas und seinen Vater:

https://www.tagesspiegel.de/berlin/prozess-am-kammergericht-zwei-iraker-wegen-terrorverdachts-in-berlin-vor-gericht/23665512.htm

Schattenbericht (Original): "Here, General Comment No. 10 of the UN Convention on the Rights of the Child106 specifies that alternatives to criminal persecution should be considered. The Optional Protocol also aims to facilitate the physical and psychological recovery and social reintegration of child soldiers (Art. 6 Para. 3 OP). When child soldiers have not only experienced serious crimes, but have also been forced to commit them, they should be supported in actively dealing with their role as a victim and also as a perpetrator, e.g. through trauma therapy. The latter is important for reintegration, even from the perspective of their victims and family members. Such a discerning approach should be incorporated into transitional justice efforts even in German exile."

"Die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in Deutschland wird regelmäßig vom UN-Ausschuss für die Rechte von Kindern geprüft. Als Grundlage für die Prüfung dient ein sogenannter Staatenbericht, den die Regierung verfassen und beim Ausschuss einreichen muss. Derzeit findet das vierte Staatenberichtsverfahren statt; die Überprüfung ist 2019 gestartet und dauert voraussichtlich bis Ende 2021." schreibt das "Deutsche Institut für Menschenrechte" auf seiner Homepage.

https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/monitoring-stelle-un-krk/staatenberichtsverfahren

Kinderrechtskonvention der UN vom 20.November 1989 https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/un-kinderrechtskonvention-im-wortlaut/

Warum Kinderrechte ins Grundgesetz? Deutsches Kinderhilfswerk: "c. Bessere Umsetzung der Kinderrechte in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Verwaltung: Wenn die Kinderrechte ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen werden, werden Maßnahmen frühzeitig im Gesetzesanwendungsprozess - sei es bei einer gerichtlichen Entscheidung, bei Gesetzgebungsprozessen auf verschiedenen Ebenen und in Verwaltungsprozessen – die Konsequenzen für die kindlichen Interessen beachten und Kinder stärker als bisher beteiligen. Auch bei gerichtlichen Entscheidungen in unteren Instanzen müssten sich Gerichte an den in der Verfassung verankerten Grundrechten der Kinder orientieren und Kinder anhören – etwa bei der Abwägung des Rechtes auf Eigentum und der Grundrechte der Kinder in einem Bebauungsplanverfahren z.B. zur Errichtung einer Kindertagesstätte oder von Spielflächen für Kinder. Die Verankerung würde zu mehr Rechtssicherheit führen. Denn bisher bedarf es einer komplizierten Herleitung, um die Kinderrechte in das GG hineinzulesen. Das wird von Gesetzesanwenderinnen und Gesetzesanwendern oft nicht getan. Die Rechte der Kinder würden im Falle von Verletzungen auch bereits in unteren Instanzen besser durchgesetzbar und es würde nicht erst einer Klage bis zum Bundesverfassungsgericht bedürfen – eine deutliche Stärkung der Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland."

https://www.kinderrechte.de/kinderrechte/kinderrechte-ins-grundgesetz/

Spenden: Terre des hommes: Sparkasse Osnabrück IBAN: DE34 2655 0105 0000 0111 22 BIC: NOLADE22XXX terre des hommes ist durch die Steuernummer 66/270/01407 als gemeinnütziger Verein anerkannt und von der Körperschaftssteuer befreit. Die Umsatzsteuer-Identifikationsnr. lautet DE117646214.

Kindernothilfe e.V. Bank für Kirche und Diakonie eG (KD-Bank) IBAN: DE92 3506 0190 0000 4545 40 BIC: GENODED1DKD Die Kindernothilfe e. V. ist vom Finanzamt Duisburg-Süd als gemeinnützige Organisation von der Körperschaftsteuer befreit (Steuernummer 109/5841/0188).

Schattenbericht Kindersoldaten: "Der Schattenbericht Kindersoldaten wird direkt in das UN-Berichtsverfahren zur deutschen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention eingespeist und von terre des hommes, Kindernothilfe und World Vision dem UN-Kinderrechteausschuss in Genf vorgestellt werden. Dieses internationale Expertengremium überprüft regelmäßig die Einhaltung der Konvention und ihrer Zusatzprotokolle und formuliert bei Defiziten Empfehlungen an die Vertragsstaaten.

Kindernothilfe, terre des hommes und World Vision appellieren an die Bundesregierung, die Empfehlungen des UN-Ausschusses an Deutschland endlich ernst zu nehmen und umzusetzen."

Abbas wurde in der vierjährigen Untersuchungshaft (im Mai 2021), in der, wie für jeden Untersuchungshäftling, die Unschuldsvermutung gilt, weder eine Berufsausbildung, noch eine reguläre Schulbildung zu teil, lt. Anstaltsleitung des der Jugendstrafanstalt. Entspricht das dem Jugendgerichtsgesetz? Genießt er -neben der Haft als mutmaßlicher IS-Junge- auch die besondere Betreuung als Kindersoldat und Opfer? Im Podcast hören Sie die Anwälte Abbas´ und den Leiter der Jugendstrafanstalt Berlin.

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OT Straßenlärm

Gerichtsreporter Morling: Mossul. Ein Konvoi von schwer bewaffneten Islamisten läuft vermummt durch die Straßen zum Quassem-al-Khayat-Platz. Dort bleiben die neun maskierten Islamisten stehen, in ihrer Mitte ein Mann in weißem Gewand, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er war vor der Machtergreifung des IS in Mossul der Chef einer paramilitärischen Einheit der Polizei. Plötzlich tritt ein Junge in rotem Pullover auf den Gefesselten zu.

OT Abbas in Mossul

Gerichtsreporter Morling: Der halbwüchsige Junge im roten Pullover beschimpft das Opfer. "Dank des  Islamischen Staates haben Sie Dich hierher gebracht und werden Dich exekutieren." sagt der Halbwüchsige dem wehrlosen gefesselten Mann in mittlerem Alter. Er bespuckt den Mann. Dann verschwindet der Junge. Nach einem Schnitt im Film fallen vier Schüsse- Das Opfer ist tot. Die Szene entstammt ursprünglich aus einem IS-Propagandavideo. Jetzt ist es in einem Berliner Gerichtssaal zu sehen, dem Hochsicherheitssaal 700 des Kriminalgerichts Moabit. Der Junge im roten Pullover ist Abbas, der damals 15-jährige, jetzt sitzt er im Käfig hinter Panzerglas. Ihm wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Abbas mitangeklagter Vater sitzt in dem Gefangnenekäfig mit Panzerglas Abbas gegenüber. Er soll einer der Vermummten IS-Männer gewesen sein. Er muss sich u.a. wegen Mordes mit seinem Sohn Abbas gemeinsam vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts verantworten seit November 2018.  Abbas Verteidiger C. Mark Höfler:

OT Höfler: Man sieht den Abbas in diesem Propagandavideo. Das ist so, das ist auch unstreitig im Prozess. Höchststreitig ist jedoch, ob er an diesem Propagandavideo freiwillig mitgemacht hat, oder ob er vom IS dazu gezwungen worden ist.

Gerichtsreporter Morling: Die Hinrichtung fand im Oktober 2014 statt. Später erklärt Abbas selbst bei der deutschen Polizei, warum er auf dem Video des IS so zu sehen ist: Verteidiger Höfler:

OT Höfler: Abbas erklärt das so, dass er selbst vor der Hinrichtung dreißig Tage lang in Haft gewesen ist, also selbst gekidnappt wurde vom IS. Sie sollen auf der Suche nach seinem Vater gewesen sein. Nachdem sie ihn nicht gefunden hatten, haben sie den Sohn (Abbas) mitgenommen. Um wieder freizukommen musste die Familie 50.000 Dollar bezahlen und man hat ihn gezwungen, am Propagandavideo teilzunehmen.

Gerichtsreporter Morling: Kurz nach der Hinrichtung des Polizeioffiziers flüchten Abbas, sein mitangeklagter Vater, die Mutter und sein kleiner Bruder aus dem Irak in die Türkei. Sie landen schließlich in Berlin. Aber: Über zwei Jahre nach der Tat erscheint ein irakischer Flüchtling auf einer Polizeiwache in der Nähe von Gütersloh. Er macht eine Aussage, hat sein Handy mit einem Foto in der Hand. Auf einem Facebook-Bild habe er Raad A., den Vater von Abbas, wiedererkannt. Sie hätten im selben Viertel in Mossul gewohnt. Raad A. sei dort der Kassenwart des IS gewesen. Alle im Viertel hätten es gewusst, trauten sich aber nicht, das zu sagen. Er habe gehört, so der Zeuge weiter, dass Raad A. auch bei der Hinrichtung des Polizeioffiziers im Oktober 2014, anwesend gewesen sei, allerdings maskiert. Der Zeuge legt das Hinrichtungsvideo vor. Abbas ist zu sehen, wie er das Opfer vor dessen Hinrichtung beschimpft und bespuckt. Die Familie der Täter wohne wohl in Berlin, sagt der Zeuge. Vier Monate später sind Vater Raad und Sohn Abbas festgenommen und kommen im Mai 2017 in Untersuchungshaft in Berlin. Im November 2018 beginnt der Prozess, nachdem sich Rauschgiftvorwürfe, wegen denen Vater und Sohn in U-Haft waren, als völlig haltlos erwiesen haben und beide freigesprochen werden. Laut Gericht damals haben zwei der Belastungszeugen gelogen. Beide Zeugen kamen wie die Angeklagten aus Mossul. Zwar wurden Vater und Sohn freigesprochen, aber die Bundesanwaltschaft beantragte einen neuen Haftbefehl wegen Mitgliedschaft im IS. Dem Vater wird außerdem u.a. Mord bei der Hinrichtung in Mossul im Oktober 2014 vorgeworfen: Raad A. soll einer der maskierten IS-Männer gewesen sein, der das spätere Opfer mit zur Hinrichtungsstätte geführt habe, sagt die Bundesanwaltschaft. Abbas wird zum Prozessauftakt noch die Mitgliedschaft im IS vorgeworfen. Außerdem eine schwerwiegende entwürdigende und erniedrigende Behandlung des später Hingerichteten. Auch wenn er noch nicht erwachsen gewesen sei, sei er in der Lage gewesen, das Unrecht seiner Taten zu begreifen, sagt die Anklage. Jahre später verschärft das Gericht den Vorwurf gegen Abbas in "Beihilfe zum Mord". Abbas zweiter Verteidiger Sven Peitzner:

OT Peitzner: Welche Handlungsoption hat so ein 15-jähriger in dieser Situation, umringt von neun schwer bewaffneten, vermummten IS-Kämpfern? Soll er sagen:"Nee, da mach ich jetzt nicht mit!" Soller nach unserem schönen Verständnis Zivilcourage zeigen, sich umdrehen und sagen: "Das finde ich jetzt nicht gut!"? Oder: Bleibt ihm eigentlich garkeine andere Wahl- egal, wie es zu der Tat kam? Diese Frage ist zu stellen! Wenn man es mit Deutschland vergleichen will, kann man zurück gehen in die letzten Kriegstage 1945, wo 14- oder 15-jährige Flakhelfer wurden und damit geholfen haben, dieses Terrorregime noch fünf Tage weiter zu erhalten. Welche Handlungsoption hatten die? Die hatten auch keine Handlungsoption: Wenn sie es nicht gemacht hätten, hätten sie ein Problem gehabt!

Gerichtsreporter Morling: Abbas hat zwei Jahre lang mit seiner Familie in Freiheit gelebt. Im Flüchtlingswohnheim lehrt er anderen Deutsch, weil er die Sprache so schnell erlernt hat. Er hat seine erste Freundin. Die spricht als Zeugin nicht von einem jungen Mann, der sich wie ein Islamist verhält, sagt sie. Er habe sie gleichberechtigt behandelt. Aber das ist allenfalls nur ein Beleg, dass er doch kein IS-Terrorist ist? Urteilen darüber muss der 1. Strafsenat des Berliner Kammergerichts. Im Mai 2021 werden es vier Jahre, dass Abbas als Jugendlicher in Untersuchungshaft sitzt. Auch für ihn gilt bis zur Urteilsverkündung die Unschuldsvermutung. Bill Borchert ist der Leiter der Jugendstrafanstalt Berlin. Er wäre ausnahmsweise dafür gewesen, dass ich Abbas interviewe. Auch der Justizsenator sieht kein Hindernis nach anfänglich zähem Verhandlungen. Aber der vorsitzende Richter des 1. Strafsenats verbietet es: mögliche Zeugen könnten durch die öffentlich gemachten Aussagen Abbas im Interview beeinflusst werden. Abbas könne doch schriftlich auf schriftliche Fragen meinerseits antworten, auch wenn alle Briefe kontrolliert würden! Bei dem beantragten Interview in der Haft wäre das Gespräch von drei Sicherheitsbeamten des Landeskriminalamtess überwacht worden, die jederzeit eingegriffen hätten, wenn das Gespräch aus ihrer Sicht in die falsche Richtung gelaufen wäre... Wenn ich also Abbas nicht selbst fragen darf, frage ich den Leiter der Jugendhaftanstalt Berlin, Bill Borchert. Was ist das für einer, der da wegen Beihilfe zum Mord und als IS-Mitglied vor Gericht steht?

OT Borchert: Im Jugendvollzug ist er ja nicht der Erste, der mit so einem Vorwurf hier inhaftiert ist. Was ich an ihm aber überhaupt nicht wahrnehme, ist so etwas "ideologiebehaftetes". Wenn ich also Gespräche mit ihm führe ist auffällig, dass es überhaupt nicht ideologisch ist. Wir hatten da durchaus andere junge Männer, die einen ideologiebehafteten Eindruck machten. Wir hatten einmal einen jungen Mann aus einem anderen Bundesland, der hier vor dem Kammergericht stand.  Dieser junge Mann war ausnehmend freundlich und hat sich an alle Regeln gehalten. Aber mit dem war kein richtiger Kontakt möglich. Da unterscheidet sich Herr Abbas total: mit Herrn Abbas können sie über alles reden. Ich finde, er hat einen sehr reflektierten Blick auch auf seine Familie, seine Eltern insbesondere. Ich finde ihn überhaupt nicht "traditionell ausgerichtet", wie er über seine Eltern spricht. Das hatb garnichts Traditionelles, wo vielleicht immer gleich denken: Frau/Mann-Bild, Frau/Mann-Rolle... Das erkenne ich beispielsweise bei ihm überhaupt nicht. Er pflegt das überhaupt nicht und ich habe den Eindruck, dass sein Familienleben im Irak anders war als das traditionelle. Das sind so die Dinge, die ich berichten kann.

Gerichtsreporter Morling: Der Prozess läuft inzwischen seit über zwei Jahren. Andere Flüchtlinge aus dem Irak sagen als Zeugen aus.  Gutachter*innen berichten, ein Islamwissenschaftler muss erklären, ob ein Sunnit, dessen Familie bis 2002 dem engen Führungskreis des Regimes von Saddam Hussein angehörten, ob die nach Husseins Sturz möglicherweise zu Islamisten wurden?  Auf viele Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, zumal es um einen konkreten Tatnachweise geht: dem angeklagten Vater und Sohn müsste man die Taten nachweisen- es geht nicht allein um die Möglichkeit, dass es hätte so gewesen sein können... Für Abbas jedenfalls gilt das Jugendstrafrecht, denn der zur Tatzeit 15-jährige soll mit einer möglichen Jugendstrafe erzogen werden. Das ist ein tragender Pfeiler des Jugendstrafrechts. Schule und eine Ausbildung gehören ebenfalls zur "Erziehung" - für das Fitmachen für das Leben in Freiheit irgendwann... Vier Jahre Untersuchungshaft - das hätten sie hier noch nie gehabt, sagt Anstaltsleiter Borchert. Abbas sei wohl der erste...

OT Borchert: In Bezug auf Herrn Abbas haben wir angefangen, ihm ein- bis zweimal wöchentlich psychologische Hilfsangebot zu geben. Wir haben angefangen, ihm noch einmal sozialpädagogische Sondermaßnahmen angedeihen zu lassen, insbesondere im schulischen Bereich. Ich halte Herrn Abbas für ser intelligent. Er ist sehr kommunikativ, er hat auch eine gewinnende Freundlichkeit. Er ist jemand, mit dem man sich auch wirklich gfut unterhalten kann. Er macht teilweise innerlich einen sehr starken Eindruck.  Aber da muss man sehr aufpassen, oft ist das Fassade. Wie es in dem Menschen aussieht, ist noch einmal eine ganz andere Sache. Und wenn si eine Haft so lange dauert, dann ist unsere Auftrag zu schauen: was können wir anbieten, damit die Belastungen abgemeildert werden?

Gerichtsreporter Morling:149 Verhandlungstage sind bereits vergangen. Ich hatte bei der Justizsprecherin angefragt, ob jemals vom 1. Strafsenat thematisiert wurde, dass Abbas ein Kindersoldat gewesen sei, als er für den IS das Opfer bespuckt und beleidigt haben soll? Das könne der Senat nicht beantworten, so die Pressesprecherin, weil er sich sonst u.U. befangen mache. Henriette Hänsch ist eine Fachfrau bei Terre des hommes für Kindersoldaten. Sie kennt den Irak.

OT Hänsch: Für bewaffnete Gruppen und Milizen, wie das beispielsweise der IS wäre - das ist ja keine staatliche Armee- ist die Rekrutierung unter 18-jährigen verboten. Das ist definitiv völkerrechtlich so festgelegt. Das ist dann ein Kindersoldat. Auch diese Frage, was ist denn, wenn unter 18-jährige sich freiwillig bewaffneten Gruppen anschließen? Die gelten trotzdem als Kindersoldaten, weil das Element der freiwilligkeit doch sehr, sehr schwer zu fassen ist. Wenn es nicht staatliche Armeen sind, für die es bestimmte Ausnahmen gibt unter bestimmten Voraussetzungen, ist das freiwillige Anschließen  zu bewaffneten Gruppen nichtstaatlicher Armeen verboten. Diese Kinder gelten auch als Kindersoldaten.

Gerichtsreporter Morling: Aus vielen Ländern, wie auch dem Irak und Syrien, kommen Flüchtlinge nach Deutschland. Terre des Hommes und andere Kinderschutzorgansationen versuchen u.a., die Kindersoldaten unter ihnen zu finden und ihnen zu helfen. Grundlage ist u.a. die Kinderrechtskonvention der UN von 1989. Bereits damals wurde definiert, wer und wann Kindersoldat ist, ihr Schutz wurde gefordert. Trotzdem kann man nicht erfahren, wie viele Kindersoldaten aus der ganzen Welt in Deutschland bereits Schutz suchten. Henriette Hänsch von Terre des Hommes:

OT Hänsch: Man muss sagen, dass es keine offiziellen Zahlen gibt, wie viele ehemalige Kindersoldaten sich in Deutschland aufhalten, weil es statistisch nicht erhoben wird. Was ganz wichtig ist, sind natürlich psychosoziale Hilfen oder Traumahilfe, je nachdem, wie die psychische Situation dieser Kinder ist; dann: ein sicherer Aufenthaltsstatus. Auf garkeinen Fall die Androhung  von Abschiebung, da das natürlich die psychische Situation der Kinder massiv beeinträchtigen und auch Retraumatisierungen hervorrufen kann. Es folgt ein langer Weg zurück ins normale Leben... Ganz massive Unterstützung benötigen diese Kinder.  Was eigentlich passieren müsste ist: dass Haft nur das letzte Mittel  sein sollte für Kinder, die von diesen Situationen betroffen waren. Vielleicht dann nur noch Jugendverwahrung, eher mit dem Prinzip der Förderung, statt der Bestrafung. Das sind die Elemente die sehr wichtig sind, wenn es sich  überhaupt um eine Haftsituation in Deutschland handelt.   Ansonsten: sozialarbeiterische und psychologische Begleitung, höchstwahrscheinlich für eine lange Zeit, je nach individuellem Fall. Gerichtsreporter Morling: Im November 2020 haben die Kinderhilfsorganisationen, die den "Schattenbericht Kindersoldaten" verfassen, ihre jährliche Aktualisierung an den UN-Ausschuss für die Rechte von Kindern" geschickt.  Erstmals wird das Verfahren gegen Abbas vor dem Berliner Kammergericht direkt erwähnt. Zitat: " Insbesondere wenn Kinder freiwillig oder nicht, in terroristischen Organisationen oder an terroristischen Verbrechen teilgenommen haben, besteht in diesen Fällen das Risiko, dass bei der Strafverfolgung die Kinderrechte in den Hintergrund treten..." Der Kinderrechte-Ausschuss der UN muss jetzt entscheiden, ob er die verantwortlichen Politiker Deutschland darauf anspricht. Zwei der Forderungen des "Deutschen Bündnisses Kindersoldaten": "Versorgung, Schutz und Hilfe für geflohene Kindersoldaten und Gewährung von politischem Asyl".

Noch bevor sich aber in einem rechtsstaatlichen Urteil erweist, ob Abbas Schuld trägt und vielleicht aus der U-Haft weiter in die Strafhaft muss, betreibt die Bundesrepublik genau das, was -laut der Vertreter der Kinderrechte-keinesfalls geschehen sollte: der inzwischen 21-jährige Abbas soll noch vor dem Urteil abgeschoben in den Irak. Nur das Berliner Verwaltungsgericht machte bisher in Eilentscheidungen nicht mit, weil der Irak noch nicht glaubwürdig versichert habe, dass Abbas dort nicht gefoltert würde.

OT Höfler: Abbas hat große Angst, in den Irak abgeschoben zu werden! Selbst das Auswärtige Amt schätzt ein, dass im Irak das Gewaltmonopol nicht gesichert ist und für Bathisten, Sunniten und Menschen, die unter IS-Verdacht stehen, größte Gefahr herrscht. Dennoch hat die Ausländerbehörde und auch das Bundesamt für Flüchtlinge versucht, den mandanten abzuschieben. Das hat auch dazu geführt, dass unser Mandant einen Suicidversuch in der Haftanstalt unternommen hat.

Gerichtsreporter Morling: Kurz nach seiner Festnahme2017 hatte Abbas in seinen Aussagen Polizisten diktiert: "In Deutschland ist es gerecht!"

Der Prozess gegen ihn und seinen Vater ist derzeit bis April 2021 terminiert.

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