UA-172374255-1

"Dieser Femizid hätte verhindert werden müssen"

Shownotes

War die Tötung der 15-jährigen Noelle ein Femizid? Musste sie sterben, weil sie ein Mädchen war? Warum war der Täter auf freiem Fuß, obwohl er 2001 bereits eine Frau vergewaltigt hatte und nach 13 Jahren Psychiatrie als nicht mehr gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft wurde? Zählen zur "Allgemeinheit" auch die Mädchen und Frauen und deren körperliche Unversehrtheit? Das fragen sich die Mutter Noelles und die ältere Schwester der Getöteten, die als Nebenklägerinnen im Prozess im Kriminalgericht Moabit sitzen, Auge in Auge mit dem angeklagten mutmaßlichen Täter. Jede Woche sterben allein in Deutschland lt. TAZ drei Frauen durch ihren Partner oder Ex-Partner. Die Zeitung bezeichnet den Schutz der Frauen vor Gewalt als "blinden Fleck der Gesetzgebung": Linkbeschreibung

Ist aber die juristische Aufarbeitung der mutmaßlichen Vergewaltigung und Tötung Noelles - und vor allem die strafrechtliche Vita des Angeklagten geeignet, um einen Femizid anzunehmen oder dem 42-jährigen Angeklagten permantenten Frauenhass zu unterstellen? Oder ist es ein Versagen der Behörden, die auch nicht reagiert haben sollen, als der mutmaßliche Täter Monate vor der tödlichen Gewalttat mehrere Männer attackiert haben soll?
Eine Petition von Weact mit den Adressatinnen Justizministerin Lambrecht und Familienministerin Giffey zählt am 05. Februar 2021 118.632 Unterschriften. Motto: "Femizide in Deutschland stoppen" "Mehr als 115.000 Frauen waren 2019 Opfer von Partnerschaftsgewalt. Gerade in Corona-Zeiten befürchten Zivilgesellschaft und Politik, dass die Zahl sogar deutlich steigen könnte. Dennoch wird das strukturelle Problem nicht anerkannt. Diese Morde sind Femizide: Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind." Linkbeschreibung

Der Prozess um den angeklagten Mord an der 15-jährigen Gymnasiastin wollen Mutter und Schwester und ihre Anwält*innen dazu nutzen, aufzuklären und zu appelieren: "Dieser Femizid hätte verhindert werden müssen!", sagt Rechtsanwältin Christina Clemm. Nebenklagevertreter Peitzer betont im Interview mit Gerichtsreporter Morling: "Das Problem ist, dass ein 15-jähriges Mädchen nicht sicher ist…"

Transkript anzeigen

Gerichtsreporter Morling: Noelle war 15 Jahre alt. Sie ging auf´s Gymnasium, hatte eine Mutter und eine große Schwester, mit denen sie in ihrer Familie lebte. Wenige einhundert Meter von der Stelle entfernt, an der sie am 5. August 2020 getötet wurde. Mit 15 Jahren. Die Mutter des Mädchens war am Tattag zu einer Fortbildung in Brandenburg. Die Familie der getöteten Schülerin ist seit jenem 5. August 2020, einer Mittwochnacht, für immer zerstört. Die Mutter Noelles und ihre große Schwester seien von tiefer Trauer erfüllt, sagen die beiden Anwälte der Familie. Trotzdem: Mutter und Schwester der 15-jähriger Gymnasiastin kommen zum Prozessauftakt in den Gerichtssaal und sitzen gegenüber dem mutmaßlichen Täter, der ihr Liebstes -Kind und Schwester- versucht haben soll, zu vergewaltigen und dann erwürgte lt. Staatsanwaltschaft. Drei Frauen sind in dem Prozess die Opfer, eine davon wurde getötet und: zwei trauernde Hinterbliebene. Ein Mann soll der Täter sein. Er sitzt in der Gefangenenbox hinter Stahl und Panzerglas. Gewalt gegen Frauen ist ihm nicht unbekannt: Wegen der sadistischen Vergewaltigung einer 60-jährigen war er 2001 für schuldunfähig erklärt worden. 13 Jahre lang saß der Angeklagte in der Psychiatrie, denn: auch, wenn schuldunfähig u.a. wegen seines Drogenmissbrauchs, galt er für die Allgemeinheit als gefährlich. 2014 bescheinigte ein Psychiater dem Mann, dass man ihn entlassen könne, er sei aller Voraussicht nach zukünftig nicht mehr gewalttätig und würde und seine Drogensucht im Griff habe. In fünf Jahren sogenannter „Führungsaufsicht“ habe der Gewalttäter sich nichts zuschulden kommen lassen. Er soll keinen Alkohol getrunken und keine anderen Rauschmittel zu sich genommen haben. Aber es soll bereits Ende 2019 wieder begonnen haben: u.a. soll der 42-jährige einen Homosexuellen bedroht haben, als der sich trennen wollte von einem seiner Bekannten, in Weißensee soll er auf offener Straße einem anderen Opfer ein Messer an den Hals gehalten haben, einem , der helfen wollte, soll er gesagt haben: "Sei leise, sonst ramm ich Dir das Messer in den Bauch!". Sieben Monate später soll der Angeklahgte nachts auf Noelle getroffen sein am Berliner S-Bahnhof Ostkreuz, sagt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, der im Prozess die Anklagebehörde vertritt.

Knispel: Nach dem Ergebnis der Ermittlungen soll der Angeklagte sein späteres Opfer, die 15-jährige, getroffen haben. Unter welchen genauen Umständen wird auch in der Hauptverhandlung noch aufzuklären sein. Dann haben sich beide zu dieser Brachfläche in der Rummelsburger Bucht  begeben, mussten einen Zaun übersteigen. Bei dieser Aktion hat sich offensichtlich die 15-jährige Noelle ungeschickt angestellt. Es gibt einen Zeugen der beschreibt, dass dort eine wohl ältere männliche Person im Zwiegespräch, allerdings lachend, ihr über den Zaun geholfen hat. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, dass er auf dieser Brachfläche, die von außen nicht einsehbar, das Opfer gewaltsam entkleidet hat , um sich an ihm zu vergehen. Ob es zu einer vollendeten Vergewaltigung gekommen ist, konnte nicht festgestellt werden. Deswegen ist nur der Versuch einer Vergewaltigung Gegenstand der Anklage. Er hat im Anschluss, laut den Ergebnissen der Rechtsmedizin, um die Tat zu verdecken und seine Ergreifung zu verhindern, dass 15-jährige Opfer mit der Hand erwürgt.

Gerichtsreporter Morling: Niemand hatte bemerkt, dass die Leiche der Jungendlichen in einem Gebüsch lag. Es war Sommer, heiss, die Rummelsburger Bucht und die Ufer der Spree waren bevölkert,  doch niemand entdeckte die Leiche Noelles. Der jetzt Angeklagte führte selbst die Polizei zu dem Tatort, so der Obetrstaatsanwalt:

Knispel: Die Mutter war zu einer Fortbildung in Brandenburg. Deshalb hat sie ihre Tochter auch nicht vermisst. Es ist aufgefallen, als der Angeklagte in Begleitung eines der beiden Verteidiger sich bei der Polizei gemeldet und auf einen Vorfall hingewiesen hat, dass ggf. eine junge Frau schwer verletzt oder gar tot ist. Der Angeklagte, der keine Angaben zur Sache selbst gemacht hat, hat dann die Polizei zu der Stelle an der Rummelsburger Bucht geführt, wo der Leichnam gefunden wurde. Am selben Morgen -nach der Tat- hat er sich bei der Polizei mit einem Verteidiger gestellt.

Gerichtsreporter Morling: Der Angeklagte soll seit der Tat vor einem halben Jahr eisern geschwiegen haben., wenn es um die eigene Tatbeteilung an der Ermordung Noelles ging. Das betont Oberstaatsanwalt Knispel ausdrücklich:

Knispel: Er hat nie von sich behauptet oder angegeben, dass er der Täter ist, noch hat er überhaupt Angaben zur Sache gemacht. Sondern er hat sich durchgängig, was sein gutes Recht ist, darauf berufen, keine Angaben machen zu müssen.

Gerichtsreporter Morling: In Coronazeiten geht man noch herzloser mit den Angehörigen der Opfer um. So empfinden es viele. Mutter und Schwester der 15-jährigen Schülerin bereiteten sich monatelang auf den Tag vor, an dem sie dem mutmaßlichen versuchten Vergewaltiger und Mörder  -des eigenen Kindes, der kleinen Schwester- erstmals gegenüber zu sitzen. Doch es wird nur die Anklage verlesen. Der 42-jährige mutmaßliche Täter schweigt. Eher klein und zierlich rollt er sich regelrecht zusammen hinter dem Panzerglas. Als er fotografiert wird, versteckt er sein Gesicht hinter eine Pappe oder hinter den dicken braunen Stahlstreben seiner Hochsicherheitsbox. Er schweigt. Er will, wie auch bisher, zu seiner mutmaßlichen Täterschaft nichts sagen. Mutter und Schwester der getöteten Gymnasiastin haben zwei erfahrene Anwälte als Beistand dabei: dass eine 15-jährige nachts allein unterwegs war, ist für beide kein Thema für den Prozess. Noelle sei von Freundinnen gekommen in der Tatnacht. Wenige hundert Meter von ihrem zu Hause sei der Mord geschehen, sagt Nebenklageanwalt Sven Peitzner. Das Thema des Prozesses sei nicht, dass eine 15-jährige sich die Freiheit eines pubertierenden Mädchens genommen habe in jener Nacht und womöglich noch Alkohol getrunken habe, als sie ihre Freundinnen besuchte. Nein, das Problem sei in unserer Gesellschaft ein anderes:

Rechtswalt Sven Peitzner: Das Problem ist, dass ein 15-jähriges Mädchen nicht sicher ist und dass ein 15-jähriges Mädchen ermordet wird!

Gerichtsreporter Morling: Rechtsanwältin Christina Clemm vertritt ebenfalls die Familie des Opfers. Dass der Abgeklagte zumindest zum Beginn des Prozesses schweigt, könnte emotional eher entlastend sein für Mutter und Schwester von Noelle, sagt sie sinngemäß, denn:

 Rechtsanwältin Christina Clemm: Ich glaube,  dass unsere Mandantin nicht wirklich wollten, denn: was soll er dazu sagen? Es wird nicht das Problem sein, dass die Tat nachgewiesen wird. Er behauptet aber bisher zu dem Tatgeschehen, dass es eine Amnesie gebe und er deshalb nicht wüsste, was geschehen ist.

Gerichtsreporter Morling: Aber was ist der Angeklagte für ein Mann? Er hasste Frauen und gewalttätig gegen sie, wie die Strafanzeigen gegen ihn bewiesen,  sagt Nebenklagevertreterin Clemm. Noelle ist für sie das Opfer eines Femizids.  Noelle sei nur erwürgt worden, weil sie ein junges Mädchen war. 13 Jahre lange saß der Angeklagte bis 2014 in der Psychiatrie. Er hatte eine Frau vergewaltigt. Als er für schuldunfähig erklärt wurde, kam er in Behandlung in ein geschlossenes psychiatrisches Krankenhaus. 13 Jahre nach der Vergewaltigung prognostizierten Gutachten, dass der Angeklagte nicht mehr gefährlich sei für die Anngemeinheit. Er wurde in die Freiheit entlassen und noch fünf Jahre lang vom Staat in der "Führungsaufsicht" begleitet. Dann wurde der 42-jährige im November und Dezember 2019 wieder gewalttätig lt. Staatsanwaltschaft. Allerdings gegen Männer als mutmaßliche Opfer. Ein Messer soll der Angeklagte u.a. einem Mann an den Hals gehalten haben: "Sei leise, sonst ramme ich dir das Messer in den Bauch!", soll er seinem Opfer zugezischt haben. Das war acht Monate vor der tat in der Rummelsburger Bucht, in der die 15-jährige Noelle erwürgt wurde. Nebenklagevertreterin Clemm:

Rechtsanwältin Clemm: Er war nicht unauffällig! Er ist nicht rausgekommen und war die ganze Zeit unauffällig! Die ganze Zeit vor der Tat gab es andere Strafanzeigen gegen ihn. 

Gerichtsreporter Morling: Für die Mutter und Schwester Noelles und ihre Anwältin Christina Clemm war der Tod der 15-jährigen ein Femizid. Zu hinterfragen ist aus ihrer Sicht im Prozess, warum der Angeklagte in Freiheit war, wie ein Gutachten seine Gefährlichkeit eventuell nicht erkannt habe, wie der Angeklagte in 13 Jahren des Maßregelvollzug behandelt wurde, warum man die angeklagten Übergriffe im November und Dezember 2019 nicht als Anlass nahm, den Angeklagten zumindest engmaschiger zu begleiten. Gewalt gegen Frauen steige, so die Anwälte der hinterbliebenen Mutter und der Schwester der 15jährigen Gymnasiastin, die lt. Sta mitten in Berlin zumindest versucht wurde, zu vergewaltigen und dann erwürgt wurde, um alles zu vertuschen. Noch einmal Rechtsanwalt Peitzner:

Rechtsanwalt Peitzner: Das Problem ist, dass ein 15-jähriges Mädchen nicht sicher ist und dass ein 15-jähriges Mädchen ermordet wird!

14 Verhandlungstermine bis Ende März hat die Schwurgerichtskammer für den Prozess vorgesehen. Am nächsten Verhandlungstag, am Dienstag, dem 9. Februar, will der Angeklagte vielleicht doch noch reden, wurde angekündigt.

Neuer Kommentar

Dein Name oder Pseudonym (wird öffentlich angezeigt)
Mindestens 10 Zeichen
Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.